Schulklasse Rotes Wien

In den 1920ern galt Wien als internationale Vorzeigestadt. Egal, ob Wohnung, Arbeit oder Bildung, Wien ist bis in die Gegenwart von den damaligen Neuerungen beeinflusst. Wir haben 5 Fakten über die damalige Bildungspolitik gesammelt, die auch heute noch aktuell sind.

Dieser Beitrag ist eine Reihe des Themenschwerpunkts Wien: eine Untersuchung, in dem wir uns aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven mit der schönsten Stadt der Welt auseinandersetzen.

1918. In der einstigen Reichshauptstadt der Habsburger herrschen nach dem Ersten Weltkrieg katastrophale Zustände. Unterernährung, Arbeitslosigkeit und Epidemien plagen die Bevölkerung.
Die Unzufriedenheit der Wiener Arbeiter:innenschaft äußert sich in Wien in der Wahlkabine: Die Christlichsoziale Partei verliert den Bürgermeistersessel. Bei den ersten freien Gemeinderatswahlen im Mai 1919 gewinnen die Sozialdemokrat:innen 100 von 165 Mandaten. (Öhlinger 1993)

Es ist die Geburtsstunde des „Roten Wien“. Die Reformen der Sozialdemokratischen Partei ließen nicht lange auf sich warten, wenige Tage nach der ersten Regierungsbildung mit den Christlichsozialen 1920 führten sie zahlreiche Neuerungen ein: den 8-Stunden-Tag, Mieterschutz, Gründung der Arbeiterkammer, Urlaubsanspruch. (Stifter 2019)

Wahlplakat Sozialistische Arbeiterpartei Österreich 1919

Wahlwerbung aus dem Roten Wien, 1927 (Quelle: Das rote Wien)

Noch vor 1921 verlassen die Sozialdemokrat:innen die Koalition und bleiben bis zu ihrem Verbot 1934 in Opposition, trotz eines Wahlsieges mit 41% 1930, aus dem aber keine Regierungsbeteiligung hervorging.
Die damalige SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) kann aufgrund ihrer Mehrheit in der Hauptstadt wenigstens in Wien an ihren austromarxistischen Zielen weiterarbeiten.

Das Rote Wien findet sein gewaltvolles Ende 1934 in den Februarkämpfen und der darauffolgenden Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur. Die Sozialdemokratie wird verboten, Anhänger:innen verlieren ihre Berufe, ca. 7.000 Personen werden inhaftiert, Hunderte kommen in das Anhaltelager Wöllersdorf, neun Führungspersönlichkeiten der Februarkämpfe werden sogar hingerichtet. (Maderthaner 2013)

Der Austromarxismus ist eine marxistische Strömung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und sich für einen dritten Weg zwischen Reformen und Revolution einsetzte. Der sozialdemokratische Politiker, Otto Bauer (1881-1938) prägte den Austromarxismus besonders stark. Kernelement des Austromarxismus ist die demokratische Machtergreifung, die Menschen sollten sozialistisch wählen aus Überzeugung.

Einhergehend mit dem Ausbau des Sozialstaates werden im Roten Wien Bildungsreformen eingeführt. Die Schulreformen profitieren von den aufkommenden Sozialwissenschaften und Persönlichkeiten wie Charlotte und Karl Bühler und Anna Freud, die eng mit den Schulreformer:innen zusammenarbeiten.

Die Schulreform war ein Teil der allgemeinen Sozialpolitik – kostenlose Schulbücher, Schulärtz:innen, Schulausspeisung, Kindergärten, Horte, Freibäder, Spielplätze – all das genoss internationales Ansehen. Der Schweizer Pädagoge Adolphe Ferrière nannte das Rote Wien die „Hauptstadt des Kindes“. (Achs et al. 1985)

Die heutigen Diskussionen über Gesamtschulen und besonders über die Vererbung des Bildungsstandes, ein in Österreich äußerst ausgeprägtes Phänomen, wurden bereits im Wien der 1920er besprochen. Neben Schulreformen ermöglichte das Rote Wien Weiterbildung für Erwachsene in Form von Vorträgen, Büchereien in Gemeindebauten oder Kulturangeboten. Das Ziel war die Erziehung „… aufrechter, lebensfroher, arbeitsfreudiger und sittlich gefestigter Republikaner“ – Bürger:innen, die die erste demokratische Republik unterstützen. (Achs 1993)

alexandria hat untersucht, was man von den damaligen Ideen der Bildungsreformer:innen lernen kann und welche heute noch relevant sind.

1. Bildung für Alle

Bekanntester Reformer der Schule in Wien ist Otto Glöckel (1874-1935), Sozialdemokrat und Leiter des Wiener Stadtschulrats. Unter Glöckel wurde die auf Gehorsam ausgerichtete Schule, in der Lieder über die Liebe zu Kaiser Franz Josef gesungen wurden, zu einer modernen Bildungsanstalt, in der die Psyche und Entfaltung des Kindes im Vordergrund stand.

Eine von Glöckels vorrangigen Forderungen war die soziale Gerechtigkeit und gleicher Zugang zu Bildung, unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung der Eltern des Kindes. Ermöglicht werden sollte dies durch eine gemeinsame Bildung bis zum 14. Lebensjahr. (Glöckel 1923, Göttlicher 2019)

In Wien wurde dieses System an einer Handvoll Schulen erprobt, von der konservativen Regierung aber stark bekämpft. 90 Jahre nach dem Tod von Otto Glöckel wird Bildung in Österreich noch immer überdurchschnittlich oft vererbt und das Konzept der Gesamtschule bleibt ein politisches Streitthema.

Portrait Otto Glöckel

Otto Glöckel ist wohl bekanntester Reformer der Bildungspolitik im „Roten Wien".
Parlament)

2. Demokratisierung

Eine weitere Forderung Glöckels war die Demokratisierung der Schule, damals eng verbunden mit der Trennung von Kirche und Schule. Glöckel schaffte das obligatorische Gebet in der Schule ab, eine Wiener Tageszeitung kommentierte dies folgendermaßen: „Herr Glöckel, sagen Sie ihren jüdischen Auftraggebern, daß wir uns unseren Herrengott nicht nehmen lassen!“ (Achs et al. 1985) Durch die Demokratisierung sollten vor allem Menschen zum kritischen Denken erzogen werden.

„Die Demokratie kann nur gedeihen, wenn die Massen des Volkes eine möglichst wertvolle Bildung in der Schule erhalten“, dies beinhaltete für Glöckel eine größere Einbeziehung der Kinder in der Planung des Lernstoffes als auch kindgerechte Methoden für ein eigenständiges, fächerübergreifendes erarbeiten von Lerninhalten, damit einhergehend wurden die Lehrenden von Stundenplänen befreit, mussten aber mit den Schüler:innen Klassenziele formulieren. (Glöckel 1923, Göttlicher 2019)

Unterricht im Freien Wien 1920

Unterricht im Freien - auch das ein neuer Ansatz in der Wiener Bildungspolitik.

3. „Die Masse mit Bildung durchtränken"

Das Rote Wien arbeitete eng mit den Volkshochschulen (VHS) zusammen, die nicht sozialistischen, sondern großbürgerlichen Ursprungs waren, und baute sie massiv aus. Außerdem ermöglichten die sozialpolitischen Reformen wie der gesetzliche Acht-Stunden-Tag und Sonntagsruhe, dass es genug Freizeit gab, um sich weiterbilden zu können.

Die Kurse der VHS waren explizit nicht dazu da, um berufsbildend zu sein, sondern um „… die Menge der Bildungsfähigen zu erfassen, um die Masse mit Bildung zu ertränken“. (Böck 1993) Sprach-, Wissenschafts-, und Zeichenkurse wurden unter anderem angeboten, 1930 boten die VHS 600 Abendkurse an.

Im Gegensatz zu den von der SDAP organisierten Kursen und Schulen bemühten sich die Volkshochschulen um politische Neutralität und musste „streng parteilos“ sein, umgesetzt wurde dies durch eine plurale Lehrerschaft, tatsächlich waren der größte Teil der Lehrenden keine Sozialdemokrat:innen. (Stifter 2016)

Die VHS bieten bis heute tausende Kurse zu den verschiedensten Themen an, von Philosophie und Geigenunterricht bis zu Rechnungswesen. Zuletzt von Geldsorgen geplagt, hat die Stadt Ende November 2023 ein neues Finanzierungsübereinkommen der Volkshochschulen angekündigt, die in den meisten Gemeinden größtenteils von den Kursteilnehmer:innen finanziert werden. Vertreter:innen der VHS sprechen sich dafür aus, dass der Bund finanziell mehr Unterstützung bieten sollte, da die Volkshochschulen ein leistbarer Garant für den Zugang zu Bildung für alle Bevölkerungsgruppen sind.

4. Förderung der Kreativität und Kultur

Das Rote Wien sah die Kunstvermittlung als politische Bildungsaufgabe. 1919 wurde die „Sozialdemokratische Kunststelle“ gegründet, mit dem Ziel, den Arbeiter:innen den Genuss von Kunst und Kultur zu ermöglichen. Die Kunststelle vermittelte Arbeiter:innen verbilligte Theaterkarten für das Burgtheater und die Staatsoper, Lesungen und Museumsführungen. Das Herz der Kunststelle waren die Arbeiter-Symphoniekonzerte, die oft in Arbeiterheimen stattfanden. Das letzte dieser Konzerte fand einen Tag vor den Februarkämpfen, am 11. Februar 1934, statt. (Böck 1993, Fichner 2019)

Dass Kunst und Kultur einer breiten Arbeiterschaft zugänglich gemacht wurden, war ein integraler Bestandteil der sozialdemokratischen Reformen. Neben persönlicher Entwicklung fördert die Auseinandersetzung mit Kunst auch kritisches Denken, Menschen verschiedener Hintergründe entdecken verschiedene Perspektiven und bringen ihre eigenen ein. Die Beteiligung am kulturellen Geschehen ist immerhin ein Menschenrecht, wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.“

Schulklasse Wien 1920

Eine Wiener Schulklasse um 1925  (Achs, 1985)

5. Wissenschaft und Politik

Wissenschaftlichkeit, insbesondere Natur- und Sozialwissenschaften, genoss besonders hohes Ansehen zur Zeit des Roten Wien. In den Kursen der Volkshochschule als auch in den Volkschulen richtete man sich nach empirisch belegten Tatsachen – der Fokus „proletarischer Bildung“ sollte trotz allen politischen Zielen auf der Empirie liegen und nicht auf Ideologie.

Diese Ansicht entspricht auch der Idee des Austromarxismus, dass Menschen nicht mit Propaganda in die „richtige“ Richtung geführt werden müssen, sondern durch Bildung selbst darauf kommen würden, dass der Sozialismus in ihrem Interesse ist. Besonders die Verwaltung arbeitete eng mit den Sozialwissenschaften zusammen. Der Begründer der empirischen Sozialwissenschaft, Paul Lazarsfeld, erhob Daten dazu, wie selbstbestimmt junge Arbeitende sich fühlen und verwendete die Resultate für Optimierungen.

Aber auch außerhalb der Sphäre der Verwaltung kamen die Bürger:innen in Kontakt mit Wissenschaft, in den Kursen der VHS findet man bekannte Lehrende, darunter der spätere Verfasser der Österreichischen Verfassung, Hans Kelsen, oder der Physiker Ludwig Boltzmann. (Waldner 2019)

Schulhefte Wien 1920

So sahen Schulhefte in den 1920ern aus.

Die Bildungsreformen des Roten Wien, erarbeitet mit Expert:innen aus den Feldern Soziologie und Pädagogik fanden international große Beachtung zu ihrer Zeit und bieten heute noch wertvolle Anregungen für die Gestaltung moderner Bildungsansätze. Umfassende Bildung für alle Bürger:innen, unabhängig von ihrer finanziellen oder sozialen Lage, sollte in einer demokratischen Gesellschaft, die nach Chancengleichheit und Teilhabe strebt, von zentraler Bedeutung sein.

Achs, Otto (Hg.). (1985). Schule damals, Schule heute. Otto Glöckel und die Schulreform.
     Jugend und Volk Wien.
Achs, Otto. (1993). „Das Rote Wien und die Schule". In: Das Rote Wien, 1918-1934.
     Historisches Museum der Stadt Wien.
Böck, Susanne. (1993). „Neue Menschen. Bildungs- und Kulturarbeit im Roten Wien". In:
     Das Rote Wien, 1918-1934. Historisches Museum der Stadt Wien.
Fichna, Wolfang. (1993). „Die Vermittlung der Musik der Moderne in der
     sozialdemokratischen Kunststelle". In: Das Rote Wien, 1918-1934. Historisches
     Museum der Stadt Wien.
Glöckel, Otto. (1923). Die Österreichische Schulreform. Einige Feststellungen im Kampfe
     gegen die Schulverderber. Wiener Volksbuchhandlung.
Göttlicher, Wilifried. (2019). „Das Rote Wien – eine ,Musterschulstadt'". In: Das Rote
     Wien, 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis. Wien Museum.
Maderthaner, Wolfang. (2013). Abgesang der Demokratie: Der 12. Februar und der Weg in
     den Faschismus. Verein für Geschichte der Arbeiter:innenbewgung.
Öhlinger, Walter. (1993). „Wien 1918-1934. Im Spannungsfeld der Ersten Republik". In:
     Das Rote Wien, 1918-1934. Historisches Museum der Stadt Wien.
Stifter, Christian H. (1993). „Volkshochschulen im Roten Wien". In: Das Rote Wien,
     1918-1934
. Historisches Museum der Stadt Wien.

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